Narizin: Raid Laponie 1998 (Teil 1)
Raid Laponie 1998 (Teil 1)
Oder aber: Wie wir im Winter den Winter fanden und uns trotzdem
für ihn erwärmten
I.
Ferne
Ziele wollen behutsam gewonnen werden, ohne Eile, mit dramaturgisch korrekt
gesetzten Pausen. Besonders geignet für Zeit-verluste sind noch immer Grenz-übertritte,
sofern ein Langhaariger (=vordergründig verdächtig) und ein Langnasiger
(=bestimmt auch verdächtig) mit einem bunten, hübsch angerosteten
Citroën das Land verlassen. Man könnte solche Situationen vielleicht
flinker auf-lösen, stritte man den Besitz des Autos ab. Man könnte
bei der Frage nach dem Reiseziel auch einen Ort in Rufweite der Grenze nennen,
Passau etwa, oder das malerische Regensburg.
Wir aber sagten: Finnland". Dies war nicht die beste
aller Antworten. Sie unterhielt einen vollbesetzten Grenzposten,
nicht aber uns selbst. Sie ließ im Fragesteller den Verdacht
zart erblühen, wir hätten die Ernsthaftigkeit einer
Amtshandlung nicht begriffen. Unnötig zu sagen, daß
unsere Daten durch den Fahndungscomputer geschickt wurden, ehe
man uns mit Gelächter doch noch ins Nachbarland entließ.
II.
Ihr wollt jetzt bestimmt nicht hören, wie man 1200 Kilometer
auf deutschen Autobahnen übersteht, in einem 32-PS-Kleinlieferwagen.
Meine Theorie: Es liegt an der Autobahn, keinesfalls aber an der
tapferen Acadiane, die mittlerweile acht Karosseriefarben hat
und 240.000 km, ungefähr, aber noch immer den gleichen Abaren
Beruf Raid Laponie. Sloten reicht das Lenkrad nur ungern weiter,
was gut zu meinen Talenten als Beifahrer paßt, die sich
eher im Navigieren, Lesen, Schlafen, Essen (unter intensiver Absonderung
von Bröseln) und dem Herüberreichen von Saftflaschen
erschöpfen.
Die Fährpassage von Lübeck nach Helsinki dauert 36 Stunden,
die man am besten mit Essen überbrückt. Man kann freilich
auch ein wenig herumgehen und dabei feststellen, daß auf
der Kapitänsbrücke Mumin-Kekse gegessen und Kaffeefilter
der Marke Bruno" verwendet werden. Auch kann man beobachten,
daß die blaue, löchrige Socke, die auf Deck 5 anonym
weggelegt wurde, mit fortschreitender Tageszeit Richtung backbord
wandert, aber angesichts fast durchgängig gut bestückter
Buffets verblassen alle anderen Aktivitäten zu Statisten
der Tagesgestaltung. Wir schätzen die Überfahrt auf
8000 Kalorien (+/- 1000).
III.
Die minus drei Grad in Helsinki wischen wir als Lächerlichkeit
beiseite, während wir vormittags in der Morgendämmerung
zum Treffpunkt stochern. Der Treffpunkt muß sein, er dient
hauptsächlich dazu, den guten Spikereifen anzulegen und die
übrigen Teilnehmer zu begrüßen. Die meisten von
ihnen sind sowieso schon oft dabei gewesen, weshalb man sie auch
in grazilen Winterjacken locker erkennt.
Das gehört so, das muß so sein.
Weniger so sein muß das Wetter, ich meine, Dunkelheit und
Schneeverwehungen bei laschen Temperaturen haben wir mit ein bißl
Glück auch daheim. Kurz nach der ersten gemeinsamen Unmutsäußerung
scheint die Sonne und das Thermometer zeigt -11°C, Tendenz
steil nach unten. So soll es sein.
IV.
Samstag, Taipalsaari. Im Winter verschläft man in Finnland besonders
leicht, weil die Nacht weit in den Vormittag reicht (Im Sommer hingegen soll
es Leute geben, die nicht einschlafen können, weil der Tag so weit in die
Nacht reicht. Aber das ist eine wärmere Geschichte.) Minus 27°C in
der Früh sind nicht schlecht, sie lassen unter minus 30 nächtens vermuten,
und beim Frühstück begegnen uns die ersten Finnen, die mit leicht
frostigem Unterton von einer Kältewelle erzählen. Vereinzelt werden
unter Absingen wärmender Lieder Damart-Unterwäschen aufgezogen.
Zugespitzt wird die Temperatur noch von eisigem Sturm, der sich
nagelbrettgleich in jedes Futzerl Haut bohrt, das im Freien stehenbleiben
muß. Auch gibt es wenig Windfang auf einem See und
wenig Bewegung beim Eisfischen, außer ein anbeißender
Fisch verlangt das rasche Hochreißen der Arme. Das muß
dann schnell gehen, wobei es nimmer schnell geht, wenn man lange
Im Freien gestanden ist.
Das alles ist sehr unangenehm.
So gewinnen die finnischen Teilnehmer das Wettfischen, weil sie
als einzige Fische fangen. Ich bin ja nicht unbedingt ein Freund
des toten Tieres, der stämmige Eisbohrer der Fischer hingegen
hat meine volle Zuneigung, weil er dem winzigen Kastanienbohrer
meiner Kindheit irgendwie ähnlich sieht. Nur beim Bohren
ist man mit dem erwachsenen Werkzeug schneller, weil es sich geschärften
Messers besonders flink ins Eis wurlt, so lange man nur eifrig
kurbelt. Aufgrund einer sich zuspitzenden Unterkühlung beginne
ich daher, den See zu perforieren. Schon fünf Löcher
später habe ich wieder Betriebstemperatur erreicht (und das
Kurbeln sollten wir später auch noch ganz gut brauchen).
Dennoch lernen wir an diesem Tag auch den hinterlistigsten finnischen
Saunaofen zu bedienen, nachdem wir lange bei +42°C und rachitischen
Aufgüssen nachgedacht hatten, wie das so ist mit kuscheligen
Temperaturen im Mutterland der Saunen.
V.
Manchmal gibt es unterwegs wenig zu schlafen oder zu essen, und
wenn sich in solchen Momenten auch noch die hellwache Befindlichkeit
eines vierbeinigen Fernseh-Kommissars meiner bemächtigt,
dann versuche ich, in einem verschlagenen Handstreich das Lenkrad
zu übernehmen. Manchmal habe ich Glück und sitze am
Fahrersitz, wenn der nächste Tankstopp noch weiter weg liegt,
und die Fahrt verläuft dann meistens sehr problemlos
wenn man davon absieht, daß mein plötzlich nur mehr
beifahrender Fahrer, von seiner Regungslosigkeit ein bißl
überfordert, nervös am Sitz rutscht und seine Hände
nur durch Draufsetzten einbremsen kann. Freilich hätte ich
für solch rare Momente ein zweites Lenkrad für ihn mitnemen
können, was aber kein besonders schlanker Auftritt gewesen
wäre.
Meine diesmalige Fahrt aber endet mit einem ambitioniert gesetzten
Einparkmanöver, über dessen korrekte Ausführung
im Cockpit der Acadiane leise Uneinigkeit aufkommt. Ich vertrete,
wie sich nimmer leugnen läßt, die Theorie vom flauschigen
Schneehaufen, der zwecks optimaler Parklückenausnutzung mit
der Schnauze dezent verformt werden darf. Sloten hingegen verhängt
ein Lenkradverbot, nachdem er den Nebelscheinwerfer wieder geradegerückt
hat, ich räche mich mit dem sorgfältigen Essen freudig
bröselnder Keks, die wir uns brüderlich teilen, weil
wir erstens nicht wirklich böse sind und zweitens die Keks
eigentlich ihm gehören.
So viel über gelungenes Hintanhalten von Krisen.
Am Weg von Taipalsaari nach Ilomantsi legen wir einen schlanken
Mäander in die Gegend, um in Varkaus ein Museum von erlesener
Schrulligkeit aufzusuchen: Es zeigt eine feine Sammlung von Klangmaschinen,
deren allerbestes Exemplar der Museumsbesitzer selbst ist. Mit
kindlicher Freude führt er seine Maschinen vor, die mitunter
ganze Räume ausfüllen. Als hätte jemand eine Münze
eingeworfen, greift er zur raschen Bewegung und erfüllt den
Rundgang mit hochtourigen Monologen, die der Ausstellung das Museale
aufs erfrischendste abräumen.
Nebenbei wissen wir jetzt, daß Finnland der EU beitreten
mußte, sonst wäre ja alles nicht wahr, sondern vielmehr
ziemlich hinterwäldlerisch.
VI.
Manchmal schneit es auch in Finnland, wobei der Schnee nicht zwingend
von oben dahertänzelt, sondern in Erdnähe eine Schräge
einschlägt, die seine genaue Herkunft zu verschleiern trachtet.
Er pfeift dann unauffällig und tut so, als wäre er schon
seit Winterbeginn auf der Welt und jetzt nur vom Wind ein bißl
aufgewühlt.
Meine
Theorie geht aber dahin, daß es sich dabei aber um eine örtliche
Spezifikation von frischem Schnee handelt, die bei uns unbekannt ist: Er fällt
auch bei minus 20°C, sonst kämen sie im Norden wahrscheinlich nur
in laschen Wintern zu weißen Gegenden. (In Korsika, hingegen, schneit
es mitunter auch bei +6°C. So viel zur Erhärtung meiner Hypothese,
wobei ich nicht die Hoffnung hege, daß mir irgendwer glaubt.)
VI.
Natürlich wird viel autogefahren bei einer Raid Laponie, und meistens
steht ein markantes Ziel am Ende, das Nordkapp heißen kann oder Murmansk
in Rußland, welches ja bekanntlich über den einzig eisfreien Hafen
des Nordens verfügt. Mehr gibt es dort auch nicht zu sehen außer
einer Stimmung, die dich freudig wieder in die Arme Mitteleuropas treibt. Wer
das Depressive nicht so mag, wird nicht leicht heimisch werden in Murmansk.
Wer morbide Hotels mag, hingegen schon. Es gibt dort nur ein Hotel, das Touristen
empfohlen wird, wenn sie unbedingt kommen wollen. Es heißt Arktika, besticht
durch östliche Betonplatten-Brachialarchitektur und verfällt mit einer
Rasanz, die die Russen bei ihren Renovierungsarbeiten souverän abhängt.
Die Reinigungskräfte erklären sich solidarisch und überlassen
den Rosträndern die Badewannen, weshalb man als Tourist gerne ungebadet
bleibt.
Diesmal steuern wir keines dieser Ziele an, sondern richten die
Enten mit träumerischer Sicherheit gegen den östlichsten
Punkt der EU, der aus zwei Holzpflöcken besteht und sich
sommers durch einen Fluß einen Abstand von nostalgischem
Respekt behält. Der Fluß ist im Winter entschärft,
weil gefroren. Zwei Belgier gehen übers Eis und umrunden
die Pflöcke, worauf ihnen eine Abordnung finnischer Grenzposten
nachreist und sie sich um die Beschäftigung des nächsten
Tages nicht mehr sorgen müssen.
(Fortsetzung im nächsten Narizin)
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