Narizin: Raid Laponie 2000 (Teil 2)
Raid Laponie 2000 (Teil 2)
Es geht auch ruhig
Wir reden jetzt vom Land, nicht vom Auto oder dem Seegang
Theoretisch ist die Einreise nach Finnland leicht: Man gleitet vom Schiff wie
eingeseift. Praktisch werden beim Einreisen gerne die Zulassungsscheine der
Autos kontrolliert. Dabei kann man auf Zöllner auflaufen, die zwar wissen,
dass österreichische Autos mit Kennzeichen bestückt sind, die aber
keine Ahnung darüber haben, dass auf jedem dieser Kennzeichen bis zu drei
Autos zugelassen sein können. Weil uns das Wort "Wechselkennzeichen״
in finnischer Sprache nicht besonders geschmeidig von den Lippen geht, verbringt
Arne seine erste Stunde auf finnischem Boden in den Armen eines Zöllners,
der gerne wo anruft, allerdings nicht dort, wo wir ihm raten, zwecks zolltechnisch
korrekter Auskunft anzufragen.
*
Wie darf man sich Helsinki im Winter vorstellen? Eher weiß, dort wo keiner
hinsteigt, und eher grau dort, wo alle drüberfahren und -gehen. Man hat
auch gewisse Erwartungen an die Temperaturen, die eher tief angesiedelt sind.
Bei allen bisherigen Skandinavien-Besuchen säumten Einheimische meinen
Weg, die von der Ankunft einer Kältewelle redeten. Diesmal schweigen sie
alle, und wir planen, was in solch einer Situation einfach geplant werden muss:
einen Besuch im "Zetor״, dem behutsam mit Traktoren und landwirtschaftlichem
Kulturgut befüllten Lokal der Leningrad Cowboys.
Wir kommen exakt bis zur Eingangstür.
Dort erklärt uns ein Türsteher und ein Zettel, dass heute eine geschlossene
Gesellschaft im Lokal gröhlen werde, und leider, wir wären nicht geschlossen
genug. (Anm. des Drivers: vielleicht wären wir ja in der gerade auf
Einlass wartenden Masse mitgerutscht, aber ein hier nicht näher zu nennendes
Mitglied unserer Gruppe hat diese ins Auge gefasste Möglichkeit durch lautstarkes,
ziemlich unfinnisches reden schon von vornhinein zunichte gemacht…)
Dies ist ein würdiger Einstieg ins Wesen eines Landes, das gut genährt
ist von traurigen Geschichten.
*
Das Zusammenfinden der Raidteilnehmer ist ein eher zwangloses, der erste Tag
gleicht einer Sternfahrt, wobei die meisten unterwegs eine Werkstatt streifen,
um die guten Spikes aufzuziehen (Anm. des Drivers: oder die Vorschriftsmässigen…)
oder ein Motoröl einzufüllen, das bei Kälte nicht erstarrt.
Am Abend in Vaasa passiert endlich, worauf alle gewartet haben: das erste Drivers-Meeting.
Ein solcher Event gestaltet sich ungefähr derart, dass eine Beginnzeit
angesetzt wird, nach deren Ablauf eine halbe Stunde vergeht, bevor nix passiert.
Dann passiert noch immer praktisch nix, außer, dass die Aufmerksamkeit
der Teilnehmer langsam auf jenen Punkt fokussiert, an dem der Auftritt des Veranstalters
vermutet wird.
Das mit der verschleppten Beginnzeit harmoniert perfekt mit der leisen Tendenz
zur Verspätung, die in manchen Ländern herrscht, weshalb die Veranstalter-Zeit
wunderbar zur österreichischen Team-Zeit passt. Blöderweise sitzen
die, die etwas später als die meisten eintreffen, beim Drivers-Meeting
eher am Rand, also dort, wo die Akustik schon etwas zerfranst, was veranstalterseits
eher trocken kommentiert wird. Dialog an den Ausläufern der Tischreihe:
Gerhard: "We don’t hear anything!״, Henkka: "No.״
Ich behaupte ja nach wie vor, dass der finnische Humor dem britischen sehr
verwandt ist, was irgendwie mit dem Wetter zu tun haben muss. (Leider ist über
den isländischen und den grönländischen Humor so wenig bekannt,
wir haben allerdings schon ein Postfach für Leserbriefe freigemacht, die
an meiner Theorie sägen wollen.)
*
Das Fahren in Skandinavien besticht noch immer durch wunderbare Ereignislosigkeit.
Die Landschaft ist statt mit dem Ertragen der Zivilisation hauptsächlich
mit sich selber beschäftigt, mit dem Tragen der Schneedecke, mit bizarren
Formen von Eis und Weiß. Wo sie eben und unbewaldet dasteht, ist ein See.
Derlei Eindrücke werden natürlich dichter und kostbarer, je weiter
du in den Norden stichst und die vergleichsweise üppig besiedelten Gebiete
abschüttelst, weshalb wir unser Ziel mit Bedacht gewählt haben: Die
Lofoten, eine norwegische Inselgruppe, die auch sommers nicht zum Überquellen
neigt vor lauter Bewohnern.
Schweden liegt zwischen Vaasa und den Lofoten, abermals dazwischen liegt das
Meer, welches es zu überwinden gilt. Wir wählen diesmal die Spät-Fähre,
welche uns nicht zu früh aus dem Bett scheucht, davor ist eine Sightseeing-Tour
geplant, inklusive Überquerung einer Bucht – aber ohne Fähre! Sie
beginnt um 9:30 Organizers-Time, also um 10:08, die Erklärungen werden
über Funk durchgegeben. (Anm. d. Drivers: Gleich am Anfang erhielten
wir ein paar vertrauensbildende Hinweise: Keine Sicherheitsgurte am Eis anlegen
und einen Mindestabstand von 20 m zwischen den Fahrzeugen einhalten – warum,
wurde nicht gesagt, das hat keiner gewagt auszusprechen…) Je weiter hinten
man im Konvoi fährt, umso länger muss man sich die Worte merken, je
weiter vorne man fährt, umso länger kann man am gefrorenen Meer Kringel
fahren.
*
Man sollte an dieser Stelle vielleicht die Funkausrüstung unserer Ente
beschreiben. Sie besteht aus zwei Funkgeräten, damit jeder von uns eines
hat und die Kommunikation zwischen Fahrer und nicht unbedingt mündlich
erfolgen muss. Sollten wir streiten, dann würde jeder von uns auf einen
anderen Kanal schalten und die Kommunikation, obwohl offiziell unterbrochen,
auf funkloser Sparflamme weiterlaufen (Anm. d. Drivers: Ich weiss nicht ob
mein Co-Driver das alles richtig verstanden hat: immerhin hat es diese Konstruktion
ermöglicht, sowohl die Erklärungen der Fremdenführerin als auch
den österreichischen Standardkanal gleichzeitig abzuhören – wo bei
das Abhören besser gelang als das Weitergeben von Information, denn schon
nach wenigen Funksprüchen waren die beiden Mikrofone hoffnungslos verwurschtelt...).
Damit es nicht so weit kommt, esse ich Keks fortan nur mehr außerhalb
des Autos und beisse ihnen alle Extremitäten gleich prophylaktisch ab,
damit keine davon sich unter Sitze verirren, wohin man sich als Keks-Extremität
nicht verirren darf. Auch perfektioniere ich die Technik des Abbeissens im
Mund: Dieser umschliesst das Keks schalldicht, die Bissstelle ist hermetisch
abgedichtet, was runterfällt, kommt nicht weit, sondern nur bis zur Unterlippe,
und zwar von innen. (Würstelstandbesucher kennen den Trick, um sich und
den Umstehenden das Desaster unkontrollierten Fett- und Käsespritzens zu
ersparen.) (Anm. d. Drivers: So ordentlich und vorbildlich er sich auch während
der Fahrt verhalten hat, bei einem kürzlichen Besuch bei uns, um Bilder
anzuschauen, hat er alles wieder zunichte gemacht: Hemmunglos hat er mit dem
von Doris vorbereiteten Eisalat in der neuen Wohnung herumgepatzt! – Und dann
noch die faule Ausrede: "Hier sind ja keine Verbotsschilder!״)
Nicht ganz gelöst ist meine leise Handy-Verweigerung. Damit ich während
der Reise doch noch eines angreife, werden mir Aufgaben zugeteilt, mit denen
ich mein Danebensitzen legitimiere. Das Aufladen des Telefons gehört dazu.
Zu diesem Zweck habe ich eine Reihe von Schaltern umzulegen und Stecker zusammenzufügen,
deren Reihenfolge ich nach wenigen Tagen auswendig aufzusagen und zusammenzustecken
imstande bin, wenn ich nicht gerade schlafe.
*
Arvidsjaur in Schweden zählt zu den kältesten Punkten Skandinaviens,
weshalb Autofirmen gerne ihre Prototypen dorthin prügeln, um Erkenntnisse
über deren Kältefestigkeit zu gewinnen. Auf freier Bahn begegnet uns
der neue Mini, vor dem Campingplatz steht das neue BMW 3er Cabrio, nur mehr
zart getarnt. Ich teste eher die Schwedenbombe, welche am Campingplatz-Buffet
gereicht wird. Erste Erkenntnis: Sie besteht aus einer Kakaomasse von sehr hoher
Energiedichte, verfügt aber über keinerlei Waffelboden, was die Bissfestigkeit
nicht erhöht. Den fehlenden Waffelboden hat sie mit der norwegischen Schwedenbombe
gemein, die in den nächsten Tagen verkostet werden will, allerdings in
ihrer Konsistenz eher einem PU-Schaum mit Produktionsfehler gleicht. Wahrscheinlich
wird sie nur von dummen Touristen gekauft.
Noch immer lasch sind die Temperaturen. Ihnen ist völlig egal, dass wird
soeben einen besonders grimmigen Punkt Skandinaviens bereisen, wir sitzen mit
Pullover im Auto, tragen die gleiche Unterwäsche wie daheim und führen
die guten -74 Grad-Stiefel unter den Sitzen mit, weil wir keine Fans des Schweissfußes
sind.
Das Thermometer fällt kaum unter -10 Grad Celsius. So steuern wir dem
Polarkreis zu, der aber nicht einfach überfahren werden will. Eine liebgewonnenen
Tradition gemäß wird am Polarkreis ein Fisch verspeist, der sein
Leben ließ, um als Surströmming unter Zuhilfename einer Zuckerlösung
eine Dose aufzublähen. Die hemmungslose Verwesung zeichnet auch das Odeur,
welches sogar bei tief zweistelligen Minusgraden nix hält von subtilem
Auftritt. Dazu wird ein Getränk serviert, welches aus alkoholfreiem Bier,
Cola, Salz und anderen garstigen Zutaten besteht – und gegenüber dem Fisch
zumindest den Vorteil der Geruchsfreiheit aufweist.
Als wir am Polarkreis ankommen, stinkt die Gegend nicht mehr. Die Stätte
ist in fahles Licht getaucht, auch olfaktorisch, wenn man so sagen darf, die
Opfer des Verfaulungs-Gemetzels sind bereits abtransportiert, in den meisten
Fällen durch sich selber.
Wir sind zu spät, was völlig unabsichtlich geschah. Ein seltsames
Gefühl bemächtigst sich unser: Von Süden strömt ein leiser
Schauer des Glücks heran, während sich vom Norden ein bisserl ein
dumpfes Gefühl aufmacht, dem Triumph über Mundgeruch und Übelkeit
eine aufs Happel zu hauen: Ist eine Raid Laponie überhaupt komplett ohne
den Surströmming? Wird man uns den Superfinn-Titel vorenthalten, ihn vor
unseren Augen auflösen im Enough-Drink, moralisch gerechtfertigt gar? Wortlos
versprechen wir uns, im nächsten Supermarkt Surströmming-Dosen zu
kaufen, um die Daheimgebliebenen und uns damit zu erfreuen. (Anm. d. Drivers:
Ein mehrfach angesetztes Surströmming-Essen wurde immer wieder verschoben
– immer wieder hat uns der Mut verlassen. Beim bisher letzten Versuch hat eine
potentielle Mitesserin sich schon vorher vorsorglich eine Magenverstimmung zugezogen
(vielleicht schon durch den Gedanken daran?) – damit muss die Sache weiterhin
aufgeschoben werden…)
*
Zur Strafe suchen wir uns eben eine neue Herausforderung: die Fährfahrt.
Als Dissidenten-Gruppe trennen wir uns zu vierzehnt von der Raid, um den südlichen
Zipfel der Lofoten zu gewinnen, einen Tag in heimeligen Fischerhütten zu
verbringen und anschließend behutsam den Norden anzusteuern, wo der Rest
der Gruppe in einer etwas weniger heimeligen Herberge unser harren würde.
Was wir nicht bedacht haben: Die Lofoten liegen im Atlantik, wo bekanntlich
der Wellengang nicht zimperlich ist mit kleinen Schiffen. Das erhebt die Fährfahrt
in eine neue Dimension, nämlich in die dritte: Gesichtsfarben und Frühstücke
gehen verloren, die Toiletten sind flugs und lange besetzt. Wer sich nicht rechtzeitig
danach umgeschaut hat, findet sie jetzt nimmer, immerhin ist die Reling lang
genug. Jemand vermutet, dass das Frühstück an Bord deshalb so teuer
ist, weil man das Aufwischen gleich mitzahlt. Wer noch gerade gehen kann ist
Matrose oder gehört zur Minderheit jener Kontinentaleuropäer, die
rauen Seegang wegstecken wie nix und ihre Robustheit ausnutzen, um den Leidenden
Trost und Rat zu spenden: Gerhard, beispielsweise, zeigt besonders gerne den
Seekranken seine Digitalaufnahmen von der Schräglage des Schiffes, was
wir alle wirklich zu würdigen wissen. Nicht alles, was wir ihm zu Füßen
legen, ist hingegen Ehrerbietung. (Anm. d. Drivers: Eine, von denen, die
die Überfahrt genossen, überschlagsmässig durchgeführte
Berechung ergab, dass im Wiener Prater ein ähnliches Vergnügen – nämlich
4 Stunden Hochschaubahn – ungefähr das doppelte gekostet hätte…)
Ich wehre mich eine knappe Stunde gegen die Übelkeit, muss dann einsehen,
dass sie sich nicht beiseite schlafen lässt, und wanke an Deck. Das Sitzen
verhilft nicht lange zu Wohlgefühl, das Liegen hilft auch nur über
wenige Minuten, man kann bei einer Welle allerdings leichter von der Bank fallen.
Mit letzter Kraft schleppe ich mich ins unterste Deck. Dermaßen ans kürzeste
Ende des Kraftarmes gelangt, lege ich mich auf eine Bank und bin erstaunt, wie
sanft die Wellen hier anschlagen, entspannt und beinahe beruhigend.
Ich bin der Einzige, der die Ankunft auf den Lofoten verschläft.
*
Was wird passieren? Werden die Surströmming-Dosen das Klima in der Ente
entscheidend beeinflussen? Wird sich Gerhard Kekse kaufen? Werden sie in einem
kanadischen Schneescooter-Autobus aus den fünfziger Jahren eine Runde ums
Wirtshaus drehen?
Weder diese noch andere Fragen beantwortet der dritte Teil
dieses Reiseberichts. Fest steht nur: Es wird ihn geben.
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